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WEITERGEHEN von Jan Henrik
2016, Acryl  auf Leinwand

„WEITERGEHEN“ lautet der Titel der Arbeit, die vierte von insgesamt fünf Positionen markiert in der von Nina Venus kuratierten Ausstellungsreihe „den Ort verlassen“. „WEITERGEHEN“ bedeutet weiter gehen, weiter als bisher. „WEITERGEHEN“ heißt auch weitergehen, nicht stehen bleiben, nicht verweilen, sondern den Ort verlassen, an dem man gerade eben noch stand. Wir blicken durch das hohe Fenster von BERLIN-WEEKLY hinein in den Raum und auf ein Gemälde, welches das genaue Abbild der Fassade zeigt, die wir eben noch von Draußen gesehen haben. Etwas aber stimmt nicht ganz – denn wo sind wir? Wo ist der Betrachter dieses Raumes auf diesem Bild? Es ist ein leerer Raum, den wir auf dem Gemälde sehen. Die Leere im Raum und die Leere im Bild spiegeln sich wieder. Ist es wirklich dieser Raum, dieser Ort, den Jan Henrik gemeint und gemalt hat oder hat er einen Zustand dieses Ortes, gar einen Zustand an sich gemalt? Gibt es diesen Ort überhaupt? Kann ein Ort existieren, wenn er gar nicht gesehen wird? Braucht ein Ort einen Betrachter? Braucht ein Bild einen Betrachter?
Im Ansehen dieses Gemäldes verweilt der Betrachter, fragt sich notgedrungen nach seiner eigenen Präsenz im Bild und wird erst im Weggehen, im WEITERGEHEN, im Verlassen des Ortes das Bild als korrekte Darstellung der Fassade erleben. Erst im Weitergehen stimmt das Bild von dem Ort, an dem wir sind und den wir verlassen.

Nina Venus, August 2016

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„Woher Wohin“ von Ying-Chih Chen
2016, (Metall, Tinte, Papier) www.facebook.com/yingchih.chen.713

aus der Ausstellungsreihe „den Ort verlassen“, kuratert von Nina Venus mit Studierenden der Muthesius Kunsthochschule in Kiel https://muthesius-kunsthochschule.de/veranstaltungen/ausstellung-von-ying-chih-chen-in-der-reihe-den-ort-verlassen/

Den Ort zu verlassen bedeutet eine Veränderung: atmosphärisch, physisch, emotional, intellektuell – es kann damit zunächst ein geografischer Ort gemeint sein. Genauso aber kann damit ein geistiger, gedanklicher Ort, eine Denkweise, eine Daseinsform bezeichnet sein und die damit die einhergehende Transformation, die Metamorphose hervorheben.

Ying-Chih Chens Skulptur ist ein großes Becken, geformt wie eine Welle, gefüllt mit schwarzer Tinte. Dahinter erstreckt sich eine Wand, bezogen mit besonderem chinesischen Papier, das sich allmählich mit Tinte vollsaugt. Die Tinte zieht in die Fasern des Papiers ein, saugt sich langsam voll und kriecht hoch, färbt das weiße Papier schwarz ein und verwandelt es, wandelt es um.

Ying-Chih Chen präsentiert ihre Arbeit „Woher Wohin“, einer sehnsuchtsvoll angewandten Frage nach Orientierung. Ying-Chih Chen ist in Taiwan geboren und aufgewachsen, sie lebt seit sieben Jahren in Deutschland und studiert an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel bei Prof. Piotr Nathan. Das Pendeln zwischen den Orten,  ihrer ursprünglichen Heimat und ihrem Studienort, ist anfänglich ein Ausschlagen in zwei gegensätzliche Richtungen gewesen. Bei Heimweh zeigte ihr innerer Kompass lange den Weg nachhause zur Familie und Freunden, zu vertrauter Umgebung, Landschaft und Kultur.
Je mehr aber sie sich in der neuen, fernen Welt zuhause fand und ihr nahe wurde, umso mehr ist über die Jahre das Heimweh zu einem nicht verorteten und ungerichteten Gefühl geworden. An keinem Ort ganz da zu sein, ganz zugehörig zu sein, immer den anderen Ort zu vermissen, zerteilt das Heimweh in Fragmente, die keinen festen Platz mehr haben.

Die Tinte ist nicht nur deshalb ihr Element, weil es ein kulturelles Erbe ist, das durch sie strömt und das sie kennt und liebt zu handhaben. Tinte ist wie Wasser auch das verbindende Element, das die Orte umspült, an denen sie lebt. In der Kalligrafie wie in der Landschaft ist der weiße Raum so wichtig wie die schwarzen Zeichen. Der Raum und der Nichtraum, die Leere und die Fülle weisen jeweils auf das Andere, hängen voneinander ab und miteinander zusammen wie das Helle und das Dunkle, das Licht und der Schatten.